Bedingungen der Freiheit in der digitalisierten Stadt

Ein Kommentar von Rainer Rehak, Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft, zur Declaration of Cities Coalition for Digital Rights, vom 20.10.2020

CC BY Rainer Rehak

Im Kontext der Diskussionen um die digitalisierte Stadt der Zukunft ändert sich der Fokus begrüßenswerterweise schon seit einiger Zeit weg von technik- und datenzentrierten Ansätzen hin zu menschen- bzw. nutzer*innenzentrierten Konzepten. Diese nehmen die konkreten Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen oder auch Nachhaltigkeitskriterien in den Blick und binden die Betroffenen im besten Falle direkt in den Designprozess der digitalen Systeme ein. Vor diesem Hintergrund entstanden diverse Prinzipien und Leitfäden, sowie damit verbundene interessante und fruchtbare Diskurse. Dieser Kommentar bezieht sich konkret auf die Declaration of Cities Coalition for Digital Rights, da dort einige grundsätzliche Probleme und Missverständnisse hinsichtlich der Umsetzung einer „digitalen Emanzipation“ des Individuums sehr gut sichtbar werden. Einen Ausweg bietet dabei die tiefergehende Beschäftigung mit Datenschutz als strukturellem Konzept.

Ich persönlich finde die oben angeführte „Declaration“ von ihrer Ausrichtung her grundsätzlich gut:

„We, the undersigned cities, formally come together to form the Cities Coalition for Digital Rights, to protect and uphold human rights on the internet at the local and global level. […] As cities, the closest democratic institutions to the people, we are committed to eliminating impediments to harnessing technological opportunities that improve the lives of our constituents, and to providing trustworthy and secure digital services and infrastructures that support our communities. We strongly believe that human rights principles such as privacy, freedom of expression, and democracy must be incorporated by design into digital platforms starting with locally-controlled digital infrastructures and services.“

Auch die Stadt Berlin hat diese „Declaration“ unterschrieben und ist (vermutlich) gerade dabei, konkrete Punkte in konkrete Stadtentwicklungsstrategien einzuarbeiten, wie vom „Bündnis digitale Stadt Berlin“ Ende 2019 gefordert wurde mit den Worten „Berlin braucht eine inklusive Digitalisierungspolitik die Mensch, Natur und Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt“ .

Grundsätzliche Kritik am Mittel

Allerdings sollten meiner Ansicht nach – wie oben angerissen – ein paar grundsätzlich problematische Aspekte angegangen werden, bevor konkrete Vorhaben gestartet werden. Es geht dabei zuerst um den grundsätzlichen Lösungsansatz, der in den Forderungen durchdringt. Der ganze Aufruf dreht sich mehr oder weniger um individuelle Selbstbestimmung und Emanzipation des Individuums, sowohl in Bezug auf Daten (informationelle Selbstbestimmung, Datensouveränität, Kontrolle über Daten und Privatsphäre), ganze Systeme (diskriminierende Systeme hinterfragen können) oder auch auf Bildung (digitale Kompetenzen). Das ist jedoch nur auf den ersten Blick werteprogressiv und zielführend. Auf den zweiten Blick jedoch ist dieser Fokus nicht nur unpassend, sondern auch kontraproduktiv, denn mit diesem Ansatz wird die Verantwortung für wesentliche systemische Fragen – wie so oft – auf die Einzelperson abgewälzt. Ein Fokus auf informationelle Selbstbestimmung und individuelle Datensouveränität sind quasi Garanten für Blindheit gegenüber struktureller Machtasymmetrie, gegenüber einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wo Menschen in fast allen Fachbereichen außer ihrem eigenen Laien sind und sich demnach nicht ständig um alles selbst kümmern können und auch für Blindheit gegenüber sozio-ökonomischer Schieflagen, die Beschäftigungsmöglichkeiten ganz grundsätzlich einschränken und überhaupt nicht individuell adressiert werden können. In letzter Konsequenz impliziert das nämlich bei erleideten Nachteilen dann: „Selbst Schuld, Du hattest ja die Wahl, warst Du denn nicht datensouverän? Hättest Du Dich mal gebildet.“ Und das gilt sogar nur dann, wenn die Nachteile überhaupt bemerkt werden. Gerade Firmen lieben diese Sichtweise, denn sie sind damit aus der Verantwortung, Transparenz genügt.

Individuen sind immer gesellschaftlich eingebettet und darum muss explizit und primär gerade die Einbettung (soziale Rahmenbedingungen, politische Leitplanken, rechtliche Regulierung) thematisiert werden, wenn es um Freiheit geht, gerade nicht die Verantwortung der Einzelnen, die sich strukturell gar nicht gegenüber Organisationen wie Firmen oder staatlichen Stellen behaupten können (Rehak 2018a). Erst daraus ergibt sich die Freiheit, überhaupt etwas entscheiden zu können oder auch mal nicht zu entscheiden und nicht darum gleich ein Problem zu bekommen. Fokus sollte also sein, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass auch die, die keine IT-Expert*innen oder urbane Aktivisti sind, ein gutes Leben führen können, selbst wenn sie sich nicht täglich um die digitale Welt kümmern.

Konkrete Kritik an den Forderungen

Es folgt Kritik an den einzelnen Punkten der Forderungen, die den soeben angedeuteten individualisierten Geiste atmen. Ich empfehle, die Punkte (https://digitalesberlin.info/eine-digitalisierungsstrategie-fuer-berlin/) jeweils einzeln zu lesen und dann meinen Kommentar dazu.

Zu 1. Wie erlangen die Bürger*innen diese digitale Kompetenzen und was passiert wenn sie diese nicht haben? Sind sie dann selbst Schuld, wenn alle smarten Geräte kontinuierlich Daten nach Silicon Valley funken? Ich denke, da muss es eher harte Schranken und Schutzmechanismen geben, die das verhindern. Dies muss Aufgabe eines effektiven Datenschutzrechts sein.

Zu 2. Das ist im Prinzip die klassische Forderung nach Transparenz, aber sie greift wie so oft viel zu kurz, denn Transparenz ist ja nicht Selbstzweck, also kein Wert an sich. Denn sollen die Menschen denn selber regelmäßig alle Dienste überprüfen und dann die Kontrolle über ihre persönlichen Daten nutzen, um digitale Vertraulichkeit, Sicherheit, Würde, Anonymität, und Datensouveränität zu gewährleisten? Natürlich nicht, Transparenz allein kann also gar keine Schutzfunktion entfalten. Das wird auch deswegen nie und nimmer klappen, weil Firmen im Fall der Fälle einfach mit ein paar Bonuspunkten locken werden, damit die Menschen zustimmen und gerade die finanzschwachen werden das tun (müssen?) – alles natürlich wie gefordert ganz transparent und freiwillig (Hofmann & Bergemann 2017). Wenn dieser Punkt wirklich so bleibt, werden nur die großen Firmen profitieren (und vielleicht sogar diese Forderungen unterschreiben), da in den Forderungen ja auch gar keine rechtlicher Begrenzung der Datensammelgeschichten zu finden ist.

Zu 3. Wie soll das denn gehen, dass einzelne Bürger*innen künstlichen Intelligenzsysteme auf unfaire, voreingenommene oder diskriminierende Eigenschaften untersuchen und diese sogar noch verändern können? Ich finde das eine wahnsinnige Überforderung und ein Wegducken vor der Forderung, dass solche Praktiken rechtlich eingehegt und unabhängig geprüft werden müssen – genau das macht übrigens der Datenschutz (Rost 2018). Eine solche Kontrollleistung können Bürger*innen niemals leisten, schon ich als Informatiker bin davon heillos überfordert, selbst wenn ich komplett Zugriff auf System und Daten hätte. Ganz ehrlich, wie soll das funktionieren?

Zu 4. und 5. Ich finde diese Punkte grundsätzlich gut, dennoch ist mir dort zu viel Ethik zu finden. Ich möchte verbindliche Standards und Vorgaben, keine Absichtserklärung ohne Sanktionen (Wagner 2018) für ethische Alternativen, für die sich die Menschen dann auch überhaupt erst einmal entscheiden müssen, wenn sie es sich denn leisten können. Dennoch beziehen sich diese Forderungen auf systemische Weichenstellungen hin zu partizipatorischer Gestaltung und Offenheit von Systemen und Infrastrukturen (B&B 2018 & Vetter 2017), was ich sehr befürworte.

Zu 6. Eine Verzahnung von Digitalisierungspolitik und Nachhaltigkeit finde ich gut, doch das Verhältnis muss geklärt werden und das geht auch grob in einem Satz: Die Orientierung von (digitaler) Stadtplanung an Mensch, Natur und Gemeinwohl sowie anderen Nachhaltigkeitsaspekten sind Zwecke, die Digitalisierung wiederum ist für deren Erreichung ein Mittel. Erst in dieser Beziehung wird ein Schuh daraus, denn Digitalisierung ist kein Selbstzweck (Rehak 2018b), so wie Wachstum ja auch keiner ist.

Fazit

Konkret würde ich also raten, die Forderungen auf das Schaffen der richtigen Bedingungen auszurichten und nicht so sehr auf die Einzelperson zu fokussieren, die es dann einzelkämpferisch wuppen soll – und scheitern muss. Individuelle Freiheit und inklusive Strukturen, gerade in urbanen Lebensstilen, sind sehr voraussetzungsreich, darum brauchen wir demokratisch legitimierte Mechanismen, die beides sicherstellen, also ähnlich wie bei Nahrungsmitteln, Medizin, Bahnsicherheit Kinderspielzeug oder Gastronomiehygiene, nur eben besser.

Verweise und Lesetipps

B&B (2018): Forderungen der Bits-&-Bäume-Bewegung für Digitalisierung und Nachhaltigkeit, https://bits-und-baeume.org/forderungen/

Hofmann, Jeanette; Bergemann, Benjamin (2017): Die informierte Einwilligung: Ein Datenschutzphantom, https://netzpolitik.org/2017/die-informierte-einwilligung-ein-datenschutzphantom/

Rehak, Rainer (2018a): Warum DatenschützerInnen aufhören müssen von individueller Privatheit zu sprechen, https://media.ccc.de/v/35c3-9733-was_schutzt_eigentlich_der_datenschutz

Rehak, Rainer (2018b): Zukunftsfähige Infrastrukturen im städtischen Bereich – Smart City: Technische Lösung sucht Problem, in „politische ökologie Nr. 155“, München, https://rainer-rehak.eu/files/Rehak,Rainer_SmartCity-TechnischeLoesungsuchtProblem.pdf

Rost, Martin (2018): Künstliche Intelligenz: Normative und operative Anforderungen des Datenschutzes https://link.springer.com/epdf/10.1007/s11623-018-0999-9

Vetter, Andrea (2017): Gibt es emanzipatorische Digitalisierung?, https://www.researchgate.net/publication/319474110_Gibt_es_emanzipatorische_Digitalisierung

Wagner, Ben (2018): Ethics as an Escape from Regulation: From “ethics-washing” to ethics-shopping?, https://privacylab.at/wp-content/uploads/2018/07/Wagner-Ben_Provocation_Piece_Brussels_BW10_pub.pdf

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